Restselbstbild

Das Konstrukt der Zeit 

Ich habe bereits einen Text über die Zeit verfasst, den Sie unter www.kieselsteine.ch im Literaturhafen finden können. Dieser Text ist allerdings sehr abstrakt, aber er hat mich zu dieser Erkenntnis inspiriert. Wenn sie das Abstrakte interessiert, dann kann ich Ihnen die Website von Patrick und Christine nur ans Herzen legen.  

Die Zeit, von der die meisten ausgehen, ist ein reines Konstrukt des menschlichen Verstandes. Die Zeit, die über Messinstrumente festgestellt wird, meine ich in diesem Text allerdings nicht. Diese werde ich nur als Referenz bei meinem Anliegen in der Zeit benutzen, denn als eine solche ist sie sehr geeignet und kann sehr hilfreich bei der inneren Vorstellung meines Textes sein. Die Vergangenheit und die Zukunft sind nicht „real“, sie existieren nur in unserer Vorstellung der Gegenwart. Die Gegenwart ist das Jetzt, dieses will ich isolieren, also ein wenig transparent machen. Wenn ich über die Vergangenheit oder die Zukunft nachdenke, dann hole ich sie gewissermaßen in das Jetzt und hauche ihnen neues Leben ein. Die Vergangenheit existiert nur als „Erinnerung“ oder als Gedanke und die Zukunft als „Vorstellung“ oder als Gedanke.  

Wenn ich mit meinen Gedanken in der Vergangenheit lebe, dann mache ich aus meinem Leben ein Konstrukt vergangener Zeiten, das ich damit neu belebe und neu erschaffe. Dieses Leben blockiert sich gewissermaßen dann selbst, weil ich versuche, meinen jetzigen Zustand auf etwas in seinem Ablauf bereits Geschehenen einzuschwingen. Dies muss unweigerlich zu Störungen in meiner Entwicklung führen, denn mit einer solchen Denkweise beraube ich mich meiner „Selbst“. Natürlich wurde die Vergangenheit mehr oder weniger „richtig“ dokumentiert, aber ob sie „wirklich“ so stattgefunden hat, das bleibt offen. Wenn ich eine Minute zurückdenke, dann bin ich mir sicher, dass ich an diesem Text gearbeitet habe. Ich kann es sogar auf den Absatz genau festlegen, aber dieser „Zeitpunkt“ ist vorüber, er ist verbraucht. In dem Moment, wo ich an ihn denke, wird er zu meinem Jetzt und wird somit zu meiner Gegenwart; ich erschaffe somit eine neue Vergangenheit, die sich zwar in ihrer leichten Varianz mit dem bereits Geschriebenen reibt, aber dennoch ist sie genauso „real“. Meine Wirklichkeit spiegelt mir den Inhalt in einer leicht veränderten Form wider und verändert so mein Verständnis, das wiederum meine Wirklichkeit mit neuen Informationen versorgt und folglich diese auch prägt.  

Die Zukunft ist ein Konstrukt der eigenen Vorstellung von dieser. Wenn ich genau darauf achte, was ich von der Zukunft erwarte und dieses Erwarten mit dem Eintreffen der vermeintlichen Zukunft später gegen prüfe, so werde ich feststellen, dass meine Erwartungen sich in irgend einer Form meines Verlangens realisiert haben. Die Zukunft entsteht aus dem Jetzt heraus; das Jetzt generiert das, was sein wird und das Jetzt wird durch mich „Selbst“ generiert. Es ist ein einfaches Zusammenspiel der Gedanken und Gefühle. Wenn ich so bin, wie ich bin, so habe ich das erreicht, was ich in meiner Gesamtheit zum jetzigen Zeitpunkt sein will. Ich denke, dass man diese einfache Formel generell verallgemeinern kann, denn ich bin, was ich sein will. Wenn ich diesen Gedankengang sehr stark vertiefe, fällt mir sofort auf, dass er „wahr“ sein muss. Meine „Mängel“ von früher waren meine Gedanken und Vorstellungen aus diesem früheren Jetzt, das natürlich im derzeitigen Jetzt nicht mehr existieren sollte, denn sonst wären meine „Mängel“ immer noch permanent vorhanden.     

Die Gegenwart beinhaltet alle Zeiten, die, die waren und die, die sein werden. Das Paradoxe daran ist, das die Vorstellungskraft nun an eine Grenze kommt, die unlösbar scheint, aber nicht gänzlich unlösbar ist. Das Jetzt ist ein ganz besonderer Augenblick, in ihm gibt es kein vor oder zurück. Alles was ich bin, ist in diesem einzigen Moment versammelt, kein Teil von mir kann sich an einem anderen „Ort“ befinden, denn alles ist hier und jetzt. Wenn ich meditiere, dann kann ich eine Vorstellung von dem Jetzt bekommen, aber dies ist nicht dasselbe. In der Meditation verschmelze ich das Innere mit dem Höheren und vergesse das Äußere; dadurch komme ich an einen Punkt der Ursprünglichkeit, der etwas Erhabenes inne hat. Ich meine das Jetzt im alltäglichen Leben; dies ist ein durchgehendes Manifestieren von dem, was ich bin, über den Weg, wie ich sein will. Dieses Jetzt im Fluss der Dinge ist nicht so ursprünglich wie das Jetzt, das ich über die Meditation erfahre, aber es ist sehr lebensnah, denn hier fließt gegenüber der Meditation das Äußere mit ein und so verschmilzt alles, was ich hier bin, zu einem Ganzen. Das Jetzt in der Meditation gibt mir die Möglichkeit, etwas über meinen A priori Ursprung zu erfahren, aber genau diesen möchte ich jetzt nicht reflektieren. Ich meine das Jetzt im Leben, dessen ich mir nicht gewahr werden will, außer ich tue es einfach, indem ich einfach nur bin, was ich bin und es auch so akzeptiere. Es gibt keine Grenzen des Möglichen, sie sind nur eine Kreation von mir selbst, die ich jederzeit neu modellieren oder sogar gänzlich verwerfen kann.  

Ich meine also eine Zeit, die es in unseren Schulbüchern so nicht gibt; diese Zeit ist nicht ohne weiteres zu verallgemeinern, denn jeder hat seine eigene Zeit. Ich staune immer wieder über die unterschiedlich verlaufenden Alterungsprozesse der Menschen, denen ich begegne. Manche altern erschreckend schnell und andere wiederum scheinen gar nicht älter zu werden. Das Altern hängt mit der eigenen Zeit zusammen; umso länger mir die Zeit „erscheint“, desto mehr altere ich im Verhältnis zu der messbaren Zeit. Eine Person, die sich grämt, wird die Zeit als sehr langsam dahinsiechend empfinden, wohingegen eine Person, an der die Zeit nur so vorbeifliegt, diese als schnellen Strom der Veränderung wahrnimmt. Für beide ist ein gemessenes Jahr gleich lang, aber die erste Person wird in diesem Jahr wesentlich mehr altern, denn sie hat in dem gleichen Zeitraum eine längere Zeit erlebt. Diese Verdichtung von zeitlichen Abläufen ist mit einer Zeitreise zu vergleichen, denn ich überspringe durch das schnellere erleben der Zeit regelrecht das „Erleben“ von verschiedenen Zeitabschnitten, die für mich selbst nicht relevant sind. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn die Zeit so schnell verstreicht. Viele der Momente, die ich erlebe, machen den Eindruck, als wären sie eine Wiederholung des Erlebens. Es sind anscheinend Wegpunkte, die sein sollen, weil ich sie selbst erschafft habe, aber darüber wird es einen eigenen Text geben. Sobald ich mich mit der Zeit verbinde, also an sie „hefte“, bin ich auch ihren gesamten Bedingungen unterworfen. Dies ist keine reine Eigenart der Zeit, sondern meine eigene freie Entscheidung. Sobald ich mich in ein durchorganisiertes Leben eingliedere oder es erschaffe und mein Leben dieser Gliederung unterwerfe, werde ich meine eigene Zeit nicht mehr spüren können, denn sie hat nichts mit dem Terminus der Planung zu tun. Die innere Zeit ist ein Instrument von mir selbst, das sich nur mir zeigt und nur mir die Kontrolle überlässt; sie kann nicht terminiert, gestaucht oder gestreckt werden. Ich bin ihr Schöpfer und Hüter, sie kennt keine Launen oder Gefühle, sie ist einfach nur mein inneres Organ der Wege in mir selbst.  

Das zeitlose Sein ist eines ihrer stärksten Eigenschaften; wenn die Zeit zu stehen scheint und der Moment zu einem ganzen Leben verschmilzt, dann ist Sein oder nicht Sein keine alleinige Frage der Substanz mehr. Das Sein wird zur Zeit und die Zeit wird zum Sein; alles was geschieht, steht im Einklang mit sich selbst. Das Bild des Lebens verändert sich nun rapide, um dem Bild des „Einsseins“ zu weichen, das Individuelle ist das Ganze und das Ganze ist das Individuelle. Die Materie ist Energie und die Energie ist Materie, welche sehr langsam schwingt. Alles ist einem energetischen „Etwas“ unterworfen und ist auch zugleich das „Etwas“ in seiner Urform selbst. Der Gedanke ist eines der besten Beispiele für die innere Zeitenergie, denn er bewegt sich durch die Zeit hindurch und findet seinen Anklang oft sehr weit von uns entfernt in einer anderen Epoche des Seins. Wenn ich mich auf meine innere Zeit einstimme, dann erfahre ich, wo meine Trennung in mir selbst entsteht und besteht. Das Männliche und das Weibliche in mir sind durch meine nicht kohärente innere Zeit durch sich selbst getrennt; nur die Verbindung mit der Zeit in mir kann sie zusammenführen. Obwohl es nur eine innere Zeit für jeden gibt, ist eine zeitliche Trennung durch sie selbst möglich, denn sie hat auch eine örtliche Komponente, die sich in ihr selbst befindet und in ihrer „Logik“ sich selbst bestätigt. Ich nenne es das Zeitraster; es ist wie ein Bienenstock aufgebaut, dieses Raster ist mit einem Irrgarten vergleichbar, denn die eine Wabe weiß von der anderen nichts, weil sie den Weg zu der anderen noch nicht gefunden hat. Die Aussage, dass es viele Wahrheiten gibt, wird dadurch etwas verständlicher, denn jede Wahrheit steht im Konsens mit dem jeweiligen Zeitrahmen, in dem sie sich befindet. Wenn ich sehr genau auf die Menschen achte, dann stelle ich oft fest, dass manche in einer früheren und andere in einer späteren Zeit leben, diese Konflikte des Bewusstseins geraten immer öfter zum Ausbruch. Er äußert sich in den Extremen des Handelns, die oftmals mit einer Umkehrung der „wahren“ Sicht auf sich selbst als Ausdruck des Willens der Verbindung zu sich selbst stehen.  

Meine Zeit in sich ist sehr flüchtig, sie verbindet sich mit einigen stabilen Bezugspunkten des Seins. Diese Bezugspunkte sind mein Festhalten an den Dingen, die außerhalb von mir selbst liegen; sie sind es, über die ich mit meinem Intellekt zu reflektieren vermag. Wenn ich sie in Form eines Koordinatensystems sehe, dann kann ich eine Route abstecken, mit der ich die Wege von mir selbst nachvollziehen oder weiterberechnen kann. Das Weiterberechnen ist der Weg der Auflösung der Widerstände, denn wenn ich einen weiteren Punkt erkennen kann, dann kann ich ihn auch ändern und somit den Weg der eigenen Selbstbestimmung beschreiten. Dieses Erkennen ist allerdings nur möglich, wenn ich dazu in der Lage bin, über meine Schatten hinaus zu blicken. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit das Erkennen von Vorgaben geprägt ist und ob es überhaupt möglich ist, das Erkennen an sich zu verallgemeinern?    

Copyright 2003 by Michael Mayer