Restselbstbild

Bestimmung 

Ich begegne immer wieder Menschen, die Angst vor der Bestimmung haben; sie denken, dass sie ihr Leben aus der Hand geben und somit die Freiheit über sich selbst verlieren, wenn sie sich der „Leitung“ eines angeblich Höheren hingeben. Dies mag auf den ersten Blick auch einleuchten, aber eben nur auf den ersten oberflächlichen Blick. Bei genauerer Betrachtung wird man feststellen, dass der Kern der Wahrheit, der sich hinter dieser Aussage zu verbergen scheint, nicht der „endgültigen Wahrheit“ entspricht.   

Es gibt auf dem Weg eines jeden Menschen sehr viele Gegebenheiten, die sich sozusagen als wegweisende Stationen zeigen; ich nenne diese Gegebenheiten Türen, da ich den Weg des Lebens im Vergleich mit einer riesigen Großstadt sehe, in der es sehr viele Häuser und Türen gibt. Die Türen stellen die Begegnungen und Möglichkeiten auf dem eigenen Weg dar. Wenn man seine „Denkweise“ ändert, dann wird man automatisch anderen Personen als zuvor begegnen; dies geschieht, ohne dass man etwas dagegen unternehmen kann. Auch wenn man seinen Weg unbewusst geht, wenn man also in der reinen Form des Reagierens lebt, ist man dieser „Regel“ unterworfen. Man bemerkt es nur nicht, weil man auf dieses „Regelwerk“ nicht achtet und sich somit in einer vermeintlichen Freiheit sieht. Erst wenn man damit beginnt, auf das, was man denkt und fühlt und auf das, was einem widerfährt zu achten, kann man sich dazu in die Lage versetzen, einige Geschehnisse, die einem widerfahren, besser zu verstehen, es entsteht ein Bild des Erkennens, das einem viele Zusammenhänge verdeutlichen kann. Oftmals wird der Begriff „Schläfer“ für Menschen verwendet, die sich mehr oder weniger stark „unbewusst“ durch das Leben bewegen, also Menschen, die sich ihrer Trennung zu sich selbst nicht bewusst sind. Auch ich verwendete diesen Begriff einige Male, um ein paar Vorgänge transparenter zu machen. Dieser Begriff bekommt aus der Sicht der persönlichen Entwicklung eines Menschen einen bitteren Beigeschmack, denn eine Entwicklung setzt das Vorhandensein von bestimmten unentwickelten „Zuständen“ voraus. Dies kann man aber so nicht verallgemeinern, der Weg des Unbewussten ist sich seiner selbst sehr wohl bewusst, nur das Denken, dessen man sich selbst immer bewusst ist, kann dies nicht erfassen. Da man den Menschen generell als einen sich in seiner Gesamtheit befindlichen Organismus betrachten muss, gehört dieses angebliche Schlafen zu seinem Weg, das „Erwachen“ stellt nur einen anderen Abschnitt dar. Das Unterbewusstsein benötigt seine Zeit der Reife ebenso wie das Bewusstsein; erst wenn sich das Bewusstsein dem Vorhandensein des ihm eigenen Unterbewusstseins gewahr wird, ist es ihm konkret möglich, über etwas wie die Bestimmung in seiner ganzen Komplexität nachzudenken.  

Die Bestimmung ist also keineswegs eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, vielmehr zeigt sie uns nur, was „wirkliche“ Freiheit bedeutet. Wenn Bestimmung bedeuten würde, dass man nur zu einem Ziel kommen kann und der Weg zu diesem Ziel keine freien Wahlmöglichkeiten inne hätte, ja dann hätte sie wahrlich nichts mit der Freiheit gemein. Aber dem ist nicht so, vielmehr wird man erkennen, dass jede neue Begegnung einen Schlüssel für eine andere Tür in sich verbirgt; ob man durch die Türen geht, die sich vor einem auftun, oder ob man es lieber lässt, das bleibt jedem selbst überlassen, zumindest reinschnuppern sollte man einmal, denn vieles ergibt sich erst aus den weiteren Begegnungen. Die Bestimmung ist keine Konstante innerhalb eines Jeden, sie ist beweglich, das heißt sie verändert sich mit jeder Änderung in einem selbst und hilft somit bei dem Erschaffen einer neuen Wirklichkeit. Das einzige, was man ihr unterstellen kann, ist die Affinität der Verbindung zu sich selbst, dies ist der einzige Hintergrund der Festlegung innerhalb der Bestimmung. Jeden Menschen zieht es in die Richtung der Ganzheitlichkeit, was ja auch kein Wunder ist, denn wir sind ja vom Grunde her ganzheitliche Wesen, die sich dessen nur nicht bewusst sind. Also kann man sagen, dass die Bedeutung der Bestimmung zum größten Teil in der Selbstfindung liegt. 

Die Bedeutung der Selbstfindung wird sehr oft falsch interpretiert, sie scheint für viele ein rein egoistisch motivierter Prozess zu sein. Dies kann man so allerdings nicht als endgültige Aussage stehen lassen, denn der Auslöser für diesen intimen Prozess liegt tief in uns selbst verborgen. Wenn man sich „wirklich“ selbst gefunden hat, dann sind diese Schemata des Denkens nicht mehr in dieser Form anwendbar, denn man ist dann nicht mehr von den rein egoistischen Trieben gesteuert, vielmehr erkennt und erfährt man Dinge, die sich weit außerhalb der vorherigen Art und Weise der Wahrnehmung befinden. Das Negative und das Positive verschmelzen in dem eigenen „Feuer“ zu einer Neutralität, die für sich die Mitte zwischen den Zuständen repräsentiert; beide Zustände sind somit ihrer einst ursprünglichen Wirkung enthoben und verbinden sich zu einem Ganzen, das sich der dualen Wertung komplett entzieht. Wo früher die Zweifel den Pol der Zerrissenheit verkörperten, tritt jetzt die Bestimmtheit in Aktion, welche die Pole der Dualität nur als jeweiliges Extrem der Mitte erkennt. Wenn sich die Teile von einem selbst zu einem Ganzen verbinden, dann ist dieses Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile. Durch diese Verbindung ist die Bestimmung in ihrer Aussage schon bestätigt, sie behindert die Freiheit in keiner Weise, sie gibt uns nur einen Hinweis auf den Grund unseres Daseins. Dieser Hinweis ist für jeden Einzelnen natürlich sehr spekulativ geprägt, er ermöglicht es uns aber dennoch, ein wenig über die „Nebel“ der Sinne hinauszublicken.  

Da das Ganze mehr als die Summe der einzelnen Teile seiner selbst repräsentiert, liegt die Sicherheit der Gültigkeit der Bestimmung in dem Erreichenwollen von Zielen, die außerhalb der Einschränkung von uns selbst liegen. Sobald man den Kontext der „Teile“ von sich selbst gestartet hat, wird man intuitiv erfassen können, dass es mehr als nur die Erfahrungen über die fünf Sinne gibt. Es ist der Ausblick auf eine scheinbar bessere und schönere Welt, der in unserem Inneren ein Verlangen nach genau dieser Welt auslöst. Die Parameter, nach denen wir uns selbst „gestrickt“ sehen, verlieren langsam ihren Einfluss über uns, denn das Ganze in uns zeigt sich immer deutlicher über den Weg der Intuition. Die Bestimmung ist es, welche uns sagt, dass etwas hinter unserem Intellekt existiert, das wir schon immer gespürt haben, das uns jedoch immer so unerreichbar weit weg erschien. Nur in unseren Träumen haben wir hier und da einen kleinen Eindruck von dem erhalten, das sich so machtvoll über alle Schleier legte. Man kann also sagen, dass es nur eine konkrete Definition der Bestimmung gibt, nämlich dass wir alle den Weg zu uns selbst „irgendwann“ finden werden.   

Copyright 2003 by Michael Mayer